Frank van Düren - Willkommen in meiner Welt
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Vorherige Geschichte

Schwesterherzen

Es waren einmal zwei Schwestern. Leni hieß die ältere. Sie war schon recht groß gewachsen, trug langes, schwarzes Haar und wirkte oft sehr nachdenklich. Sie sinnierte über das Leben und teilte ihre Gedanken gerne über das Internet mit Freunden und dem Rest der Welt.
Lili wiederum war die jüngere der beiden, ein aufgewecktes Kind mit goldlockigem, kurzem Haar und einem ebenso goldenen Gemüt. Ihre Neugier und Wissbegier hatte sie nie verloren, auch nicht nach dem Tod ihrer Mutter, welcher natürlich beide Schwestern hart getroffen hatte.
Ebenso wie ihren Vater, der sich nun um die beiden kümmerte. Er gab sich alle Mühe, seinen Töchtern ein guter Vater zu sein, so sehr seine Trauer doch an ihm zehrte. Er weinte oft, aber nur, wenn er die Mädchen nicht in seiner Nähe wähnte. Leni und Lili gegenüber wollte er keine Blöße zeigen. Er gab sich stark, um ihnen eine Stütze zu sein. Der Vater bot den Schwestern nach dem Tod der Mutter Halt und versuchte, ihnen ein unbeschwertes Leben zu ermöglichen.
So kamen die ersten Ferien, die sie ohne die Mama verbringen mussten. Hierfür hatte der Vater eine Hütte in den Bergen angemietet, zu der die drei dann auch fuhren. Lili war begeistert und saugte schon auf der Fahrt jeden Eindruck in sich auf. Sie liebte die Felder, die Kühe und Pferde auf den Weiden, die Blumen am Straßenrand, ja auch die Autos in all ihren Formen und Farben. Die ganze Fahrt über staunte sie über dies und das und fragte den Vater Löcher in den Bauch.
Leni hingegen war nicht so glücklich über diesen Trip. Sie fühlte sich zu alt für einen Familienausflug und wäre lieber bei ihren Freunden in der Heimat geblieben. Auch, weil sie dort einen Jungen kennengelernt hatte, den sie sehr mochte. Er war der einzige, der ihre Gedanken wirklich verstand. Bei ihm fühlte sie sich wohl. Am liebsten hätte Leni also den Vater mit der Schwester alleine fahren lassen, doch er hatte das nicht zugelassen. Und Leni stritt auch nicht mit ihm. Zu sehr sah trafen sie die unterdrückten Tränen in seinen Augen. Leni wusste, wie sehr er die Mama vermisste. So kam sie widerwillig mit auf die Reise, wenngleich sie sich während der ganzen Fahrt nur still mit ihrem Handy beschäftigte.
Erst als sie schon in den Bergen waren, blickte sie davon auf.
"Papa, mein Empfang geht immer wieder weg. Was soll das?", fragte sie genervt.
"Das ist hier nun mal so", erwiderte der Vater. "Die Berge und Bäume sorgen für Funklöcher. Aber Du kannst auch sicher mal auf das Ding verzichten, oder?"
"Schau mal Lenchen, da fliegt ein Greifvogel!", warf Lili dazwischen. "Papa, Papa, was ist das für ein Vogel?"
"Ich muss mich auf die Straße konzentrieren Lili", sprach der Vater. "Aber was ich aus dem Augenwinkel erkennen kann, sieht nach einem Falken aus."
"Ich liebe Falken!" rief Lili begeistert aus. Leni indes hatte nicht viel für diese Tiere übrig. Dennoch machte sie ein Foto von dem Vogel, um das Bild auf Instagram zu teilen. Wenn sie denn jemals wieder ordentlichen Empfang haben sollte. Leni seufzte genervt, als sie sah, dass man auf dem Bild nur einen geschwungene, schwarzen Strich vor grauem Grund erkennen konnte.

Die Hütte war gemütlich, wenn auch recht klein, Es gab eine kleine Kochnische, einen Tisch, an dem sie alle drei Platz fanden - den vierten Stuhl hatte der Vater nach draußen und hinter das Gebäude verfrachtet - und einen kleinen Holzofen, der für wohlige Wärme sorgte. Draußen hingegen war es eiskalt und es lag Schnee, so wie es in den Bergen oft der Fall ist.
Zum Schlafen gab es ein Etagenbett mit zwei Ebenen, jeweils gerade groß genug für zwei Personen. Die Schwestern würden oben schlafen, während der Vater das untere Bett für sich beanspruchte.
Am Abend spielten sie noch ein paar Runden "Mensch Ärgere Dich nicht". Niemand nahm die roten Figuren, denn mit diesen hatte immer die Mutter gespielt. Ihre Figuren standen auf dem Brett - ganz, als ob sie jeden Moment zur Tür hinein kommen und sich an dem Spiel beteiligen würde.
"Ich finde es langweilig hier", nörgelte Leni.
Ihr Handy war an eine Powerbank angeschlossen, denn in der ganzen Hütte gab es keine einzige Steckdose. Überhaupt mangelte es hier an elektrischem Strom, denn auch das Licht kam aus einer uralten Petroleum-Lampe und vom beschaulichen Feuer des Ofens. Für das Spiel hatte der Vater zudem zwei Kerzen auf dem Tisch angezündet, damit sie besser sahen, was auf dem Feld und auf den Würfeln vor sich ging.
"Also ich finde es toll!" ereiferte sich Lili. "Gehen wir morgen wandern?"
Der Vater blickte seine Töchter nur traurig an, dann würfelte er. Mit seiner Figur schlug er eine von Leni, die diese somit zurück in die Startposition setzen musste.
"Mensch Papa, das ist gemein!", meckerte Leni, die natürlich sehr wohl wusste, dass er sich nur an die Regeln hielt.
"So ist das Spiel nun mal", sprach der Vater mit sehr leiser Stimme.
Leni nahm ihr Handy, um erneut festzustellen, dass sie hier oben in der Hütte keinen Empfang hatte. Sie fühlte ich abgeschnitten von der Welt, von ihren Freunden, vom Leben. Die Begeisterung ihrer kleinen Schwester für die Wunder der Natur konnte sie nicht mehr teilen. Nicht, seit die Mutter an einer Krankheit gestorben war und Leni somit die bittere Realität akzeptieren musste: Nichts ist für immer. Alles ist vergänglich. Und was man liebt, verliert man.
Wie gerne hätte sie diesen tiefsinnigen Gedanken ihrer besten Freundin geschickt. Doch das ging ja leider nicht.

"Leni, Leni wach auf!"
"Was soll das?", fragte Leni empört. Lili rüttelte an ihr, als wäre etwas in sie gefahren.
"Lass das, ich bin müde!", fauchte die große Schwester.
"Leni, bitte wach auf! Papa..."
"Was ist mit ihm?", murmelte Lenchen, die sich umgedreht und das Kissen über den Kopf gezogen hatte. Ihre Schwester konnte so unfassbar nervig sein.
"Hör Doch!", forderte diese.
"Was denn? Da ist nichts!"
"Ja eben!", wisperte Lili. "Der Papa schnarcht doch immer!"
Da war was dran. Widerwillig richtete Leni sich auf und schaute sich im Dunkeln um. Von draußen fiel nur schwaches Mondlicht in die Hütte, sodass sie kaum etwas erkennen konnte, außer die schemenhaften Umrisse ihrer kleinen Schwester.
"Beruhig’ Dich. Ich schau mal nach ihm", sprach sie und stieg vom Bett herab. Sie taste auf der unteren Ebene nach ihrem Vater, doch er war nicht da. Sorge stieg in ihr auf.
"Und? Was ist?", fragte Lili mit zittriger Stimme.
"Ich weiß nicht", antwortete sie. "Er ist sicher nur nach draußen gegangen, um neues Holz aus der Kiste hinter der Hütte zu holen."
Sie taste nach ihrem Handy, das noch auf dem Tisch lag.
"Warum sollte er das mitten in der Nacht tun? Und warum hören wir ihn dann nicht?", wollte Lili wissen.
Darauf hatte die ältere Schwester keine Antwort. Endlich hatte sie ihr Handy in der Hand. Sie schaltete die Taschenlampen-Funktion ein und erschrak! Doch es war nur Lili, die plötzlich neben ihr stand. Sie war die Treppe vom Hochbrett herab fast lautlos gestiegen.
"Wir müssen ihn suchen!", forderte der Goldschopf.
"Du spinnst doch!", gab Leni zurück. "Er kommt bestimmt bald wieder!"
Doch Lili war bereits dabei, sich ordentliche Kleidung und ihre Schuhe anzuziehen.
"Du kannst da nicht alleine raus!"
"Dann musst Du eben mitkommen!", betonte Lili, die sich offenbar nicht davon abbringen lassen würde, nach dem Vater zu schauen.
Leni war hin und hergerissen. Sie verstand nicht, warum ihr Vater des nächtens, ohne etwas zu sagen, verschwunden war. Normalerweise würde er seine Töchter nie einfach alleine lassen. Sicherlich machte er nur einen kleinen Nachtspaziergang. Doch auch dieses Argument ließ Lili nicht gelten.
"Nein, etwas ist mit ihm", widersprach die Kleine. "Ich spüre es. Und ich habe es in seinen Augen gesehen!"
Da kam es auch Leni in den Sinn. Dieser Schatten in den Augen des Vaters, der so still gewesen war beim abendlichen Gesellschaftsspiel. Angst und Sorge keimte in ihr auf.
"Gut, wir suchen ihn. Aber wir müssen uns warm anziehen, wie für eine Schneewanderung. Denn es ist dunkel und kalt da draußen."
Lili nickte.
"Und vergiss Dein Handy nicht, Schwesterherz. Selbst wenn Du damit nicht telefonieren kannst, kann uns doch das Licht helfen."

Draußen war es allerdings überraschend hell. Es war eine sternenklare, windstille Nacht. Nur einzelne, kaum sichtbare Wattewölkchen waren zu erkennen, von denen eine sich gerade am Vollmond vorbei schob. Ansonsten glitzerte nicht nur dieser, sondern auch zahlreiche Sterne am Himmel, und das Licht reflektierte im weißen Pulverschnee, der nahezu alles bedeckte, was sie um sich herum sehen konnten.
Im Schnee zeichneten sich auch die Spuren des Vaters ab. Sie führten den Berg hinauf, in Richtung eines schmalen Waldwegs, der hinter der Hütte begann.
"Wo will er wohl hin?", fragte Leni leise.
"Wir müssen ihn suchen!", betonte Lili noch einmal.
Beide fassten sich ein Herz und stapften los. Im Mondenschein folgten sie den Spuren, die alsbald in einen lichten Wald führten.

Es war ruhig um sie herum. Schweigend liefen die Schwestern nebeneinander her, immer den Spuren der Stiefel des Vaters folgend. Lediglich der gelegentliche Ruf einer Eule durchbrach die Stille. Und hier und da ein Knacken von Holz, das die beiden Mädchen zusammenschrecken ließ.
"Keine Angst, das ist normal!", flüsterte Leni. Sie wollte nicht nur Lili, sondern auch sich selbst beruhigen.
Je weiter sie in den Wald hinein gingen, desto dichter und dunkler wurde dieser. Und auch die Spuren des Vaters wurden schwächer, ganz als hätte es hier zwischenzeitlich noch einmal geschneit und die Stapfen bedeckt. Das konnte allerdings nicht sein, denn soweit sie es durch die Baumkronen sehen konnten, war der Himmel nach wie vor klar.
"Lass uns umkehren...", begann Leni.
"Schau, hier ist er vom Weg abgewichen!", reif Lili aus und schlug einen Haken, der ganz den kaum noch erkennbaren Spuren des Vaters tiefer in den Wald folgte.
"Warte!", befahl Leni, doch die Schwester hörte nicht. Fluchend wie ein Rohrspatz schaltete die große Schwester erneut das Handylicht an und folgte Lili in die Untiefen des Bergwaldes hinein.

Es kam, wie es kommen musste.
"Wir haben uns verlaufen!", meckerte Leni.
"Nein, haben wir nicht!", trotzte Lili.
Doch die Jüngere musste einsehen, dass sie unrecht hatte. Längst hatten sie die Stiefelabdrücke des Vaters verloren und wussten auch nicht mehr, wo sie waren. Da ertönte in der Ferne ein Heulen! Lili schrie auf!
"Ich hab Angst", weinte sie.
Leni zog ihr Schwesterherz in die Arme und drückte sie fest an sich.
"Ich passe auf Dich auf!"

Hier im dichten Wald lag kaum noch Schnee auf dem Boden, denn dieser schaffte es nicht durch die Baumkronen, die auch nur noch wenig Licht hindurch ließen. Alles um sie herum verwandelte sich in dunkle Schemen und Schatten, und sie mussten aufpassen, wo sie hintraten. Der Schein der Handy-Taschenlampe reichte kaum aus, um ihnen den Boden zu erleuchten, und mehr als nur einmal geriet eine von ihnen ins Stolpern. Hinzu kam, dass sie mal bergauf, mal bergab gehen mussten, denn oft wurde es gefährlich steil hier am Berg, und sie mussten ein Stück weiter hinauf steigen, um voran zu kommen. So oft sie konnten suchten sie allerdings den Weg hinab, in der stillen Hoffnung, dass sie im Tal auf Menschen trafen. Doch selbst als es insgesamt ebenerdiger wurde, fanden sie nur noch dunklere Bewaldung vor.
Gerade wollte die Verzweiflung Leni übermannen, als Lili plötzlich aufgeregt flüsterte:
"Schau Lenchen, da hinten, da ist es heller!"

Vorsichtig näherten sie sich dem Licht, das sich als eine vom Mond beschienene Lichtung entpuppte. Es mochte nicht die Rettung sein, doch nach der gefährlichen und holprigen Wanderung durch die Dunkelheit bot diese kleine, erleuchtete Oase ein wenig Hoffnung und die Gelegenheit, zumindest einmal zu verschnaufen, ohne sich von Schatten umschlungen zu fühlen.
Natürlich lag hier wieder überall Schnee. Am Rande der Lichtung fanden sie einen großen, umgeknickten Baum, den sie an einer Stelle vom weißen Pulver befreiten, um sich darauf zu setzen.
"Was sollen wir nur tun?", wimmerte Lili.
"Wenn ich doch nur wenigstens Empfang hätte!", Leni starrte auf ihr Handy, als ob sie es mit der Kraft ihrer Gedanken mit dem Netz verbinden könnte.
"Ach Lenchen, es tut mir so Leid, dass ich nicht auf Dich gehört habe..."
"Sei still!"
"Aber..."
"Pssst!", machte Leni. "Ich höre etwas!"
Und tatsächlich, da war ein Geräusch! Es klang wie ein Fiepen und Winseln, und es kam von einer anderen Ecke der Lichtung. Dort schien ein dunkler Fleck den Schnee zu durchbrechen.
Als sie dem wimmernden Geräusch näher kamen erkannten sie, dass es sich bei dem vermeintlichen Flecken um ein Loch im Boden handelte. Und als sie vorsichtig in selbiges hinein spähten, sahen sie einen kleinen Fuchs in der tiefen Kuhle. Er kauerte dort und zitterte am ganzen Leib. Um ihn herum lagen Blätter, Geäst und Schneereste.
"Du armer Fuchs!", stieß Lili hervor. "Wie bist Du da nur rein geraten?"
"Das sieht aus wie eine Fallgrube", überlegte Leni laut. "Jemand muss das Loch mit Ästen und Blättern bedeckt haben. Dann ist noch der Schnee darauf gefallen und der Fuchs konnte nicht erkennen, dass er hinab stürzen würde, wenn er über diese Stelle läuft."
"Wer macht denn so etwas?", fragte Lili entsetzt.
"Wilderer", antwortete Leni mit bitterer Stimme. "Böse Menschen, die Wildtiere entweder lebendig fangen, um sie zu verkaufen. Oder sie töten, um das Fell weiterzuverkaufen. Ich habe mal im Fernsehen einen Bericht darüber gesehen."
"Das ist ja schrecklich!", entfuhr es der jüngeren Schwester. "Wir müssen ihn da rausholen!"
"Aber was, wenn er beißt? Er könnte Tollwut haben!"
"Lenchen, er beißt nicht, schau ihn Dir an! Der arme Kerl möchte nur in die Freiheit und nicht von bösen Menschen gefangen werden!"
"Gut, aber wir müssen vorsichtig sein. Ich hab da auch schon eine Idee!"

Es dauerte eine Weile, aber dann fanden sie einen großen und stabilen Ast auf dem naheliegenden Waldboden. Diesen schoben sie vorsichtig in das Loch und passten dabei auf, den Fuchs nicht aus versehen damit zu treffen und gar zu verletzen. Ein Ende des Astes kam so auf dem Boden der Grube zu stehen - sie verkeilten ihn so gut sie konnten mit dem Geäst dort unten - das andere Ende lehnten sie an die Kante des Loches, sodass es noch ein Stück heraus ragte.
Dann zogen sie sich schnell zurück, denn auch wenn sie nicht wirklich Angst vor dem Füchslein hatten, so wollten sie doch auf Nummer sicher und somit auf Abstand gehen. Beide wussten über Tiere, dass diese nicht zuletzt dann um sich bissen, wenn sie verängstigt waren.
Es dauerte nicht lange, da erschien erst der Kopf des Fuchses an der Kante, dann das ganze Geschöpf. Reineke hatte einmal mehr Schläue bewiesen und erkannt, dass er den Ast nutzen konnte, um an ihm herauf zu klettern. Vorsichtig und doch elegant sprang er über die Kante in den weißen Schnee. Kurz schüttelte er sich, dann schaute er sich um. Schließlich sah der Fuchs die beiden Schwestern, die in sicherer Entfernung zuschauten. Sein Blick ruhte eine Weile auf ihnen, fast , als wolle er "Danke" sagen. Dann wandte er sich ab und lief los.
"Wir haben ihn gerettet!", freute sich Lili.
"Ja, das haben wir!"
Auch Leni strahlte das erste Mal in dieser Nacht. So groß ihre Angst auch war, dieses Erlebnis hatte sie im Herzen berührt.
"Und schau! Dort, wo er hin gelaufen ist, befindet sich ein Pfad!"
Kurz fragte sie sich, warum sie beide den deutlich erkennbaren Waldweg vorher nicht gesehen hatten. Doch dann verwarf sie den Gedanken wieder. Sicher waren sie beide bei ihrer Ankunft auf der Lichtung nur zu erschöpft gewesen. Jetzt jedoch erfüllte neuer Mut die beiden Schwestern und sie folgten dem Weg, den der Fuchs ihnen offenbart hatte.

Sie waren bereits eine Weile den Pfad entlang gelaufen, als ihnen auffiel, dass sich etwas verändert hatte.
"Wo ist der Schnee?" wunderte sich Lili. "Mir ist auch überhaupt nicht mehr kalt!"
Sie öffnete ihre dicke Winterjacke und zog sich Handschuhe und Mütze aus, sodass ihre goldenen Locken zum Vorschein kamen. Leni ging es nicht anders, und sie machte noch eine weitere Beobachtung.
"Es ist auch so hell hier", stellte sie fest.
Tatsächlich schien der Wald hier in einen unwirklichen Schein gehüllt zu sein. Es war kein Leuchten, kein wahres Licht. Eher war es ein diffuses Strahlen, dass sie den Weg und die Umgebung klar erkennen ließ. Wo die Umgebung zuvor noch bedrohlich und düster gewesen war, lud sie die Mädchen nun regelrecht ein, sie zu erkunden. Mal glaubten sie, Feen zwischen den Bäumen tanzen zu sehen, dann leuchteten Sternchen über ihnen, noch unter den Baumkronen, die seltsamerweise gar Blätter zu tragen schienen - zumindest diejenigen, die kein Nadelgehölz waren. Zudem nahmen sie nicht selten ein Glitzern wahr.
"Wo sind wir hier?", staunte Leni.
"Im Märchenwald!", kicherte Lili.
Ihre große Schwester schaute sie fragend an, doch die Kleine schien das sehr ernst zu meinen.
"Spürst Du nicht die Magie?"
Und tatsächlich, da war etwas mystisches, das sie umgarnte. Leni hätte es nicht in Worte fassen können, aber das hier und jetzt war anders als alles, was sie bisher in ihrem Leben erfahren hatte.
Aus den Augenwinkeln meinte sie gar blühende Blumen zu erkennen, doch wohin sie ihren Blick wandte, sie sah lediglich den schimmernden Wald, wie hinter einem zarten Schleier. Und noch etwas war seltsam: Das ganze hätte sie beängstigen müssen, aber das tat es nicht. Vielleicht lag es an ihrer kleinen Schwester - Lili schien munter und auf seltsame Art glücklich, und dieses Gefühl übertrug sich auch auf Leni. So wandelten sie durch den Wald, der irgendwie lebendig schien und eine Wärme ausstrahlte, die ihnen Mut und Zuversicht vermittelte. Es ging ihnen sogar so gut, dass sie nicht einmal erschraken, als plötzlich eine Stimme über ihnen ertönte.
"Hallo!", tönte diese.
Die beiden Mädchen traten ein wenig zurück, um den Sprecher besser erkennen zu können. Hoch über ihnen, auf einem stabilen Ast, der über den Pfad ragte, dem sie folgten, saß eine weiße Eule.
"Äh... Hallo zurück", stotterte Leni. "Du sprichst ja!"
"Du sprichst auch!", sprach die Eule.
"Ja aber... Was bist Du?", fragte Leni irritiert,
während Lili dem Gespräch neugierig lauschte.
"Ich bin die Eule!", stellte die Eule fest. "Was Du nicht sagst...", Leni kam sich gerade etwas blöd vor. "Und was machst Du hier?"
"Ich sitze hier!", sprach die Eule. Bevor Leni eine weitere Frage stellen konnte, fügte sie hinzu: "Und ich beobachte Euch!"
Hier klinkte Lili sich ein.
"Warum beobachtest Du uns?", wollte sie wissen.
"Weil ihr hier fremd seid."
"Das ist ein Märchenwald, richtig?", ereiferte sich Lili.
"Ja!", sprach die Eule.
"Hab ich doch gesagt...", flüsterte Lili grinsend, sodass Leni es gerade so verstand. Sie ignorierte die Spitze ihrer kleinen Schwester. Stattdessen ergriff sie wieder das Wort.
"Ich fürchte, wir haben uns verlaufen", gestand sie. "Kannst Du uns vielleicht helfen?"
"Ja und nein", erwiderte die Eule.
"Was soll das heißen?"
"Ihr könnt Euch nur selbst helfen", erklärte die Eule. "Aber ich kann Euch dabei begleiten!"
"Na toll." Leni war enttäuscht. "Kannst Du uns denn gar keinen Tipp geben?"
Die Eule legte den Kopf auf die Seite und betrachtete die beiden Schwestern schweigend.
"Folgt Euren Herzen", sprach sie schließlich.

So liefen Leni und Lili weiter durch den Märchenwald, während die Eule ihnen flatternd folgte.
Schließlich lichtete sich der Wald etwas, und vor ihnen tauchte, wie aus dem Nichts, ein riesiger, dunkler See auf. In seinem Wasser spiegelten sich die Sterne und der Mond. Alles wirkte friedlich und still. Die Eule setzte sich auf einen Ast eines nahegelegenen Baumes.
Jetzt erst merkte Leni, wie lange sie beide nichts getrunken hatten und verspürte auf einmal unheimlichen Durst. Nichts hielt sie mehr, auch nicht das forsche "Warte!" ihrer jüngeren Schwester, und sie stürmte zum Ufer des Sees. Sie formte ihre Hände so, dass sie damit das Wasser zum Mund schöpfen konnte, und sie trank.
Da ertönte eine Stimme, wie von fern:
"Lenchen, bist Du es?"
"Mama?"
Leni erschrak. Verstört schaute sie sich um, und tatsächlich erblickte sie ihre Mutter. Sie stand mitten auf dem See, in einen seltsamen, grünlichen Schimmer gehüllt und winkte ihr zu.
"Mama! Du bist nicht tot?", rief die junge Dame laut heraus. Zahllose Gefühle übermannten sie, und sie wusste nicht, was sie tun sollte.
"Lenchen, komm zu mir!", rief die Mutter, die eigentlich tot sein sollte und doch mitten auf dem See stand.
Leni fing an zu weinen. Sie hatte ihre Mama so sehr geliebt, und sie vermisste sie unendlich. Ihrer Schwester und dem Vater gegenüber hatte das Mädchen sich immer cool gegeben, da sie glaubte, für die beiden stark sein zu müssen. Aber tief im Inneren fehlte die Mutter ihr mehr als sie je zugegeben hätte.
"Komm zu mir, meine geliebte Tochter!" Die Stimme war so vertraut! Irgendwo in der Ferne hörte Leni noch eine andere Stimme, aber das war jetzt unwichtig. Sie konnte endlich wieder bei Mama sein! Sie raffte sich auf uns lief ins Wasser.

Lili starrte fassungslos auf die Szenerie. Auch sie sah die Mutter, oder vielmehr eine Gestalt, die vorgab, ihre Mama zu sein. Doch Lili wusste tief im Herzen, dass dies nur ein Schein war, nicht real. Schlimmer noch - was auch immer da draußen auf dem See war, es schien Leni in seinen Bann zu ziehen. So sehr Lili auch rief, die große Schwester hörte nicht auf sie und stürzte sich stattdessen in das dunkle Wasser!
"Ich muss was tun!", erkannte Lili. Panisch schaute sie sich um, und da erblickte sie einen Stein. Beherzt griff sie zu, nahm Anlauf und warf den Brocken mit aller Kraft in Richtung der Gestalt auf dem See.
Das Wurfgeschoss flog in hohem Bogen über Leni hinweg und fast fürchtete Lili, dass sie zu schwach gewesen war, doch sie traf! Der Stein erwischte die Gestalt, die vorgab, die Mutter zu sein, dort, wo der Kopf war! Doch statt abzuprallen, fegte er durch den geisterhaften Schädel hindurch, das Wesen schrie auf uns zerstob in tausend Nebelschwaden!

Leni sackte im knietiefen Wasser zusammen.
"Mama...", stieß sie leise hervor, doch der Spuk war vorbei. Ihre Mutter war tot, und das würde sie auch bleiben. Selbst im Märchen gab es keine wundersame Wiederauferstehung. Das hatte sie nun verstanden.
Durchnässt schleppte sie sich ans Ufer und setzte sich dort ins Geäst.
"Es tut mir Leid...", sagte Lili, die hinter ihre Schwester getreten war.
"Das muss es nicht, mein Herz", antwortete Leni. "Du hast mich davor bewahrt, mich selbst zu verlieren. Dieser See hätte mich beinahe verschlungen."
"Du... Du bist gar nicht mehr nass!", stellte Lili überrascht fest.
Und so war es auch: Leni, die gerade noch triefend dem Gewässer entstiegen war, fror nicht, noch war auch nur eine Restfeuchtigkeit in ihrer Kleidung geblieben. Das war wohl das ungerechte an der Märchen-Magie: Sie vermochte das unmögliche möglich zu machen, aber die Mama brachte sie nicht wieder zurück.
"Lass uns weitergehen", sagte Leni schließlich. "Wir müssen Papa finden!"
Sie folgten eine Weile dem Ufer des Sees und fanden dann einen Pfad, der in den Wald hinein führte. Schweigend liefen sie nebeneinander einher, während das Glitzern um sie herum wieder zunahm. In den Augenwinkeln meinte Leni einmal mehr, Bewegungen, Gestalten und blühende Blumen wahrzunehmen. Doch wenn sie versuchte, diese Ahnungen fest anzuvisieren, sah sie nur Bäume und Unterholz. Es war, als würde ein Vorhang ihr die Sicht auf das versperren, was war.
Schließlich wurde es ihr zu bunt und sie wandte sich an die Eule, welche gerade auf einem Baumstumpf am Wegesrand saß und sich das Gefieder mit dem Schnabel putzte.
"Was soll das alles hier?", wollte Leni wissen. "Wenn das ein Märchenwald ist, warum sehe ich dann keine Feen, Kobolde oder ähnliche Viecher?"
"Viecher?", fragte die Eule zurück. "Da hast Du Deine Antwort!"
"Was soll das heißen?" meckerte das Mädchen und funkelte die weiße Eule wütend an.
Doch es war Lili, die antwortete:
"Weil Du versuchst, mit den Augen zu sehen", sprach sie. "Öffne dein Herz, Lenchen!"
Leni brauchte eine Weile, bis sie begriff, dass ihre Schwester längst einen anderen Märchenwald sah, als sie selbst. Lili war so neugierig und unbedarft, dass sie sich vom ersten Moment an ganz auf den Zauber eingelassen hatte.
Früher hatte Leni die Dinge ähnlich positiv gesehen, wie es ihre kleine Schwester noch heute tat. Doch als die Mutter verstarb, nahm sie ein Stück der Hoffnung ihrer älteren Tochter mit ins Grab.
"Du musst Dich Deiner Traurigkeit nicht schämen." Es war die Eule, die sich nun an Leni wandte. "Sie ist ein Teil von Dir und verleiht Dir Deine innere Kraft. Sie nährt Deine Kreativität und spendet Trost. Aber Du darfst Dich nicht von Ihr beherrschen lassen."
Leni wollte schon widersprechen, doch dann erkannte sie, dass die Eule recht hatte. Schon eine Weile hatte sie diese melancholische, mitunter dunkle Seite an sich selbst akzeptiert, gar lieben gelernt. Aber sie war nicht der einzige Aspekt ihres Wesens. Leni wollte auch die schönen Dinge im Leben sehen. Sie schloss die Augen, atmete mehrmals langsam und tief und lauschte in sich hinein. Und dann sah sie sie: Feenwesen, die auf den Ästen und Steinen und Stöcken um sie herum tanzten. Kleine Gestalten, die manchmal wie Tinkerbell aus Peter Pan, dann wieder wie gestaltlose Lichtblitze wirkten.
"Sind sie nicht wunderschön?" Lilis Augen glänzten, jetzt wo sie den Anblick mit Leni teilen konnte.
"Absolut...", antwortete diese.
"Und sieh, wie sie tanzen!", begeisterte sich Lili. "Sie freuen sich, dass wir sie sehen!"
"Ich weiß nicht so recht", erwiderte Leni. "Für mich wirken sie eher... aufgeregt!"
Nun erkannte auch Lili, dass etwas nicht stimmte.
"Du hast recht. Es wirkt, als wollten sie, dass wir ihnen folgen."
"Dann sollten wir das tun!"

Die Feen führte sie vom Weg fort, durch einen Teil des Waldes, der von Farnen und anderen grünen Gewächsen durchwuchert war. Je weiter sie kamen, desto mehr glitzerte es um sie herum. Überall sah man gesponnene und geflochtene Fäden zwischen Ästen und Pflanzen. Diese meist hauchdünnen Fädchen glitzerten und blinkten in allen Farben des Regenbogens und zerstoben manchmal zu Glitzerstaub, wenn die Mädchen sie berührten, manchmal schienen sie aber auch an ihren Fingern haften zu bleiben und diese umschlingen zu wollen. Auch formten sie gelegentlich kleine Figürchen oder Muster, um sich dann wieder aufzulösen und neue Muster zu bilden.
"Was ist das?" staunte Lili.
"Das ist Feenseide", erklärte die Eule. "Die Feen erzeugen sie aus der Energie, die frei wird, wenn Menschen hoffen, träumen, lieben, glauben."
"Und wofür ist die Feenseide gut?", wollte Leni wissen.
"Muss denn alles für etwas gut sein?", schmunzelte die Eule. "Nun, die Feen formen daraus ihre Welt - auch der Märchenwald ist daraus erwachsen."
"Das heißt, all dies um uns herum ist ein Produkt menschlicher Gefühle?"
"Du hast es erfasst. Das nennt man Kreativität." Die Eule schien zu schmunzeln, wenngleich man dies ihrem Gesicht nicht ansehen konnte.
Fasziniert folgten die Mädchen den Feen noch ein Stück, bis sie schließlich zwischen den Bäumen hindurch auf eine dunkle, freie Fläche traten. Lediglich die leuchtenden Feen und der fahle Mond brachten ein wenig Helligkeit auf den Platz. Es dauerte eine Weile, bis sie sich an das fehlende Licht gewöhnt hatten und erkannten, dass sie sich auf einem leeren Waldparkplatz befanden.
"Wie kann das sein? Sind wir nicht mehr im Märchenwald?", fragte Leni die Eule.
"Der Märchenwald ist überall und nirgendwo, antwortete diese. "Er ist mit Eurer Wirklichkeit verwoben, aber nur wenige Menschen nehmen ihn wahr, und das auch nur zu besonderen Zeiten. Er ist auch nicht immer das, was ihr einen Wald nennen würdet - in einer Stadt zum Beispiel sieht er... städtischer aus."
"Und wieso ist er hier auf diesem Parkplatz für uns nicht zu sehen?", klinkte sich Lili ein. "Überhaupt, warum stinkte es hier so?" Sie rümpfte die Nase. Auch Leni fiel der unangenehme Geruch auf. Die Feen schienen indes noch aufgeregter und unruhiger als zuvor und versuchten, die beiden Mädchen weiter zu locken. Schließlich deutete Lili auf die andere Seite des Parkplatzes.
"Schau mal Lenchen, was ist das?"
Ein schwaches Schimmern war dort zwischen den Bäumen zu sehen.
"Keine Ahnung Lilimaus, aber wir sollten uns das mal ansehen. Die Feen scheinen uns auch dort hinführen zu wollen."
Als sie näherkamen, erkannten sie ein großes Gebilde aus Feenseide, welches am Boden lag. Einzelne Fäden hängen noch an den umliegenden Bäumen, mit denen es wohl ursprünglich mal verbunden war. Es sah aus wie eine Art Gebäude, ein.... Schloss.
"Das Schloss der Feen...", hauchte Leni leise.
Aber es lag am Boden, obwohl man sah, dass es eigentlich hätte im Netz der Fäden schweben sollen. Und es war teilweise zerstört, denn es lagen Dinge darauf, Dinge die im Schimmer zunächst nur als Schemen zu sehen waren... Müllbeutel! Teils aufgerissen, quoll der Unrat hinaus und lag auf und neben dem Schloss, dessen Schimmer nach nur schwach war, im Vergleich zu den Fäden und Formen, die sie im Märchenwald gesehen hatten.
"Was ist hier passiert?", fragte Lili fassungslos.
"Es sieht so aus, als hätte jemand seinen Müll achtlos in den Wald geworfen und damit das Feenschloss erwischt, es unter sich begraben!" Leni konnte kaum glauben, was sie sah.
"Warum macht man so etwas?", Lili klang wütend.
"Die meisten Menschen sehen nicht, was sie mit ihrem Verhalten bewirken", erklärte die Eule, doch es war keine echte Entschuldigung für diese Missetat.
"Wir müssen ihnen helfen!", erkannte Leni, denn die Feen tanzten verzweifelt um ihr vom Abfall begrabenes Schloss herum. Sie selbst zerrten und zupften an dem Müll, aber es bewegte sich nichts.
"Die Feen können nichts bewegen, was sich in Eurer normalen Realität befindet", erklärte die Eule, aber die Mädchen hörten kaum noch zu. Stück für Stück sammelten sie den verstreuten Müll ein, steckten lose Teile in noch heile Beutel, befreiten so das Schloss immer weiter vom Unrat. Da sie nicht wussten, wohin sonst damit, brachten sie es zu den Mülleimern des Waldparkplatzes und stopften die Beutel hinein.
"Das wäre so einfach gewesen...", murmelte Leni.
So werkelten sie eine ganze Weile, bis schließlich auch der letzte Dreck vom Schloss entfernt war. Und siehe da! Es begann nicht nur, wieder langsam empor zu schweben, sondern eingedrückte und beschädigte Teile reparierten sich wie von Zauberhand. Feenseide entsprang den Türmen, Erkern und Glitzerwänden des Schlosses und verbanden sich mit der umliegenden Natur. Die Feen tanzten glücklich um die Mädchen herum. Zum Dank schenkten sie jedem der beiden ein Stück Feenseide.
"Das ist wunderschön! Habt Dank!", freute sich Lili.
"Das ist wahrlich ein besonderes Geschenk", staunte die Eule. "Passt gut darauf auf, denn diese Seide kann wahrlich Wunder bewirken."
Beeindruckt verstauten sie ihre Seidenstücke tief in ihren Taschen, verabschiedeten sich noch einmal von den Feen und wandten sich dann wieder dem Wald zu.
"Wollen wir nicht lieber der Straße folgen?", überlegte Leni. "Dann haben wir etwas, woran wir uns orientieren können und finden nach Hause."
"Nach Hause?", fragte Lili. "Ohne Papa gibt es kein Zuhause. Und er ist irgendwo in diesem Wald. Ich kann es spüren."
Leni widersprach nicht. Tief im Herzen wusste sie, dass ihre Schwester recht hatte. Der Vater war irgendwo da draußen. Und sie mussten ihn finden.

Das Erlebnis mit den Feen hatte Leni seltsam fröhlich gestimmt. Sie fühlte sich gut, denn es war bereits die zweite "gute Tat" in dieser Nacht, nachdem sie schon den Fuchs aus seiner Falle gerettet hatten. Auch wenn sie sich nach wie vor Sorgen um den Verbleib des Vaters machte, war dies doch die spannendste, aufregendste und ereignisreichste Nacht ihres bisherigen Lebens. So sehr sie oftmals mit ihrer Traurigkeit zu kämpfen hatte, so sehr genoss sie nun diesen seltsam verzauberten Wald und die Abenteuer, die sich in ihm boten.
Dann aber merkte sie, dass mit Lili etwas nicht stimmte. Das sonst so fröhliche Goldlöckchen zog ein grimmes Gesicht. Das passte so gar nicht zu ihr!
"Lili mein Mäuschen, was ist los mit Dir?", fragte sie besorgt.
"Ich bin wütend!", stieß die Kleine hervor. "Wie kann man nur so etwas tun?"
"Was genau meinst Du?
Lili schnaufte und holte aus:
"Seinen Müll achtlos in den Wald werfen? Warum machen Menschen so etwas? Du hast doch gesehen, was man damit anrichtet!"
"Ja, ich habe es gesehen, aber wie die Eule gesagt hat, konnten die Verursacher das Feen-Schloss wohl nicht sehen..."
"Darum geht es doch gar nicht!", schrie Lili Tränen der Wut standen ihr in den Augen. "Selbst wenn man die Feen nicht sieht, weiß man doch, dass der Müll der Umwelt schadet!"
"Du hast ja so recht, mein Schatz", seufzte Leni. "Es gibt leider Menschen, denen das egal ist. Die sich nicht um die Natur, die Tiere, ihre Mitmenschen kümmern."
"Das ist nicht richtig!" Lili war kaum zu beruhigen. Zornig stampfte sie auf und wütete weiter: "Solche Menschen gehören ins Gefängnis. Sie sollten nicht in den Wald dürfen und hier ihren Dreck hinterlassen!
"Lili..." Leni wollte ihre Schwester beruhigen, doch da merkte sie, dass sich etwas zusammenbraute. Ein rot glühender Nebel zog zwischen den Bäumen auf, wirbelte um die Mädchen und wurde immer dichter.
"Was ist das?" stieß Leni hervor.
"Der Nebel des Zorns!", sprach die Eule, bevor sie sich von ihren Schwingen in die Höhe tragen ließ.
"Leni, ich hab Angst!"
Lilis Stimmung war von einem Moment auf den anderen umgeschlagen. Und auch ihre große Schwester fürchtete sich vor den wogenden und treibenden Schwaden, die immer dichter und undurchsichtiger wurden. Doch sie konnte sich jetzt keine Panik leisten - sie musste ihrer Schwester helfen. Beherzt griff sie deren Hand, die sie gerade noch erkennen konnte und zog die Jüngere an sich.
"Komm her ich pass auf Dich auf!", sprach sie mit fester Stimme.
Sie schlang ihren Arm um die Schwester und hielt sie ganz nah, sodass dich diese beruhigte.
"Es ist nur Nebel mein Herz", beruhigte sie Lili. "Wir gehen langsam, Schritt für Schritt, bis wir ihn hinter uns gelassen haben. Lass uns nur so vorsichtig sein, dass wir nicht über Geäst stolpern, oder ich mit meiner Runzelbirne gegen einen Baum laufe."
Mit ihrer letzten Bemerkung entlockte sie der schluchzenden Schwester gar ein sachtes Kichern.
Und so schritten sie langsam und vorsichtig voran, während Leni beruhigend und liebevoll mit Lili sprach. Sie blieben ganz nah, auch als der blutrote Nebel sich langsam wieder lichtete. Die Schwaden verzogen sich schließlich, und die Herzen der Schwestern beruhigten sich wieder.

Überrascht stellten sie fest, dass auch der Wald sich nahezu vollständig gelichtet hatte. Stattdessen standen sie nun vor einem hohen Berg. Gut, sie waren die ganze Zeit durch waldiges Gebirge gewandert, aber dieser Koloss vor ihnen war ihnen zuvor nie aufgefallen, so hoch wie er aufragte.
Und genau vor ihnen sahen sie eine Höhle, die tief in den Berg hinein zu führen schien. Gerade überlegten sie, diese zu erkunden, da ließ ein Flattern die beiden Mädchen aufhorchen.
"Das würde ich nicht tun!", sprach die Eule. Es klang unheilvoll!
"Warum nicht?", fragte Leni irritiert.
"Weil wir Euch fressen könnten!", erklang eine tiefe, grollende Stimme aus der Höhle.
"Wer... wer seid ihr?", fragte Lili.
"Eure Freunde!", erklang eine weibliche, leicht surrende Stimme.
"Sind wir das?", fragte die tiefe der beiden Stimmen.
Die beiden Mädchen starrten verwirrt ins Dunkel.
"Wer ist da?", fragte Leni.
"Der böse Wolf!", brummte die tiefe Stimme.
"Lupo!", empörte sich die andere.
"Ja, das ist ein weiterer meiner Namen", sprach der offenkundig Männliche.
Dann trat er ins freie. Ein großer, grauer Wolf schritt langsam aus der Höhle hinaus, auf die Mädchen zu. Diese wichen unwillkürlich zurück, Angst stieg in beiden auf. Kurz hinter dem Wolf tauchte die Wölfin auf, etwas kleiner und schlanker als Lupo.
"Siehst Du nicht, wie sie sich fürchten?", sagte sie.
"Das sollten sie auch, Nadja.", brummte Lupo und fixierte Leni. Er leckte sich über die Lippen.
"Wölfe fressen keine Menschen!", betonte Lili. Sie stemmte ihre Fäuste in die Hüfte.
"Wer sagt das?", Lupo beäugte nun das jüngere Mädchen. Er leckte sich übers Maul und legte den Kopf schräg.
"Mama hat das immer gesagt, wenn sie uns Rotkäppchen vorgelesen hat...", gab Lili unsicher zurück.
"Ach das Rotkäppchen, die war..."
"Nett!", fuhr ihm Nadja in die Parade. "Sie war ein sympathisches Mädchen, mit dem wir lustige Abenteuer erlebt haben."
Lupo knurrte unwillig.
"Ihr müsst meinem Mann verzeihen, er hat heute einen schlechten Tag", sagte die Wölfin.
"Vor allem habe ich Hunger!", widersprach der Wolf. "Außerdem sind das Menschen, die haben es verdient..."
"Niemand hat es verdient, zu sterben!", fauchte Nadja und versuchte sich zwischen Lupo und die Mädchen zu schieben, die mittlerweile starr vor Furcht waren.
"Hast Du vergessen, was diese Kreaturen anrichten?", Lupo schnappte nach seinem Weibchen und drängte sie so zur Seite. "Sie morden und zerstören, zeigen keine Rücksicht gegenüber der Welt, in der wir alle leben. Hast Du Bruno vergessen? Sie haben ihn getötet, weil sie Angst vor ihm hatten! Er wollte auch nur leben!"
Während er zürnte, schien er noch zu wachsen. Bedrohlich ragte er über den Mädchen auf, die sich nun vor Panik zusammenkauerten und bei den Händen hielten.
"Diese Monster sind für all das Leid in der Welt zuständig. Warum sollte ich sie nicht fressen? Dann haben sie wenigstens einen Nutzen!"
Leni sah schon ihr letztes Stündlein geschlagen. Gerade wollte sie Lili zurufen, dass sie laufen sollte, um sich todesmutig dem Wolf in den Weg zu schmeißen, da ertönte eine eher piepsige Stimme hinter dem Wolf."
"Paps? Was machst Du da?"
Lupo zuckte zusammen.
"Äh... Ich..."
"Sind das Menschen?" Ein Wolfswelpe schob sich zwischen seinen Eltern vorbei und schaute die Schwestern mit großen Augen an.
"Äh... ja..." Lupo wirkte plötzlich gar nicht mehr so groß.
"Boah, cool! Hast Du Dich mit ihnen angefreundet?" Der Jungwolf ging neugierig auf die Mädchen zu.
"Halt Dich von ihnen fern, Junior!", forderte Lupo.
"Aber wieso?", wollte Lupo Junior wissen. "Sie wirken nett. So wie Rotkäppchen, mit der habe ich immer gerne gespielt! Außerdem glaube ich, dass das die beiden sind, die Marlon gerettet haben!"
"Marlon?", fragte Lupo Senior verwirrt.
"Das ist sein Freund, der Fuchs", mischte sich Nadja ein. "Da hinten kommt er übrigens!"
Und tatsächlich kam ein Fuchs den Waldrand entlang geschlendert. Es war derjenige, den die Mädchen früher in der Nacht aus dem Loch befreit hatten.
"Hey Kumpel", grüßte er den Junior. "Hallo Papa Wolf. Mylady..."
Er verneigte sich vor Nadja.
"Oh, ihr habt meine Heldinnen kennengelernt! Danke nochmal, ihr beiden Grazien!"
"Gern geschehen...", murmelte Leni, die von der Situation nun vollkommen überfordert war.
"Eule, alte Keule!", grüßte Marlon schließlich den weißen Nachtvogel, der sich die ganze Zeit im Hintergrund gehalten hatte. Dann wandte er sich an die gesamte Gruppe:
"Was geht ab?"
"Wir haben gerade Deine beiden Retterinnen kennengelernt! Sie sind aber ziemlich still...", sagte der Junior.
"Das könnte daran liegen, dass sie Angst haben", erklärte Nadja.
"Warum sollten sie Angst haben?", wollte Lupo Jr. wissen.
"Weil Dein Vater sie fressen wollte!", verriet die Wolfsmutter.
"Aber Paps!", rief Junior empört aus. "Du hast doch immer gesagt, wir töten niemanden! Schon gar keine Menschen!"
"Äh..." Mehr brachte Lupo Senior nicht hervor, als alle Augen fragend auf ihn gerichtet waren.
"Niemand wird hier getötet oder gefressen", bestimmte Marlon. "Schon gar nicht meine bezaubernden Damen hier!"
Er wandte sich an Leni und Lili.
"Danke nochmal für Eure Hilfe da draußen. Aber sagt, was führt Euch hier hin?"
"Wir haben uns verlaufen...", begann Leni, die mittlerweile sicher war, dass keine ernsthafte Gefahr von den Tieren drohte. Ein untrügliches Zeichen dafür war, dass Lili längst zu Lupo Junior gegangen war und die Arme um den kleinen Wolf geschlungen hatte, der ihr im Gegenzug einmal quer über das Gesicht schlabberte.
Leni berichtete den Tieren von ihrem Vater, der verschwunden war, und wie sie auf der Suche nach ihm im Märchenwald gelandet waren und allerlei Abenteuer erlebt hatten.
"Wir müssen ihn finden!", beendete sie schließlich ihren Bericht.
"Ich denke, da kann ich mich dann wohl bei Euch revanchieren", schmunzelte der Fuchs.
"Wie das?", wollte Leni wissen. Hoffnung keimte in ihr auf.
"Nun, ich habe einen Menschenmann im Wald gesehen, auf den Deine Beschreibung zutrifft", antwortete Marlon. "Ich weiß, in welche Richtung er gelaufen ist. Allerdings sollten wir uns beeilen - der Schwarze Schatten war ihm auf den Fersen!"

Der gesamte Trupp folgte Marlon, welcher sie zielsicher wieder in den Wald führte, zunächst dorthin, wo er den Vater zuletzt gesehen hatte, und dann auf dessen Fährte. Es war schon ein bunter Haufen, der sich hier zusammengetan hatte: Zwei junge Menschenkinder, eine weiße Eule, ein schlauer Fuchs und eine Wolfsfamilie. Sie eilten, denn allen war bewusst, dass der Schwarze Schatten eine schlimme Bedrohung darstellte, wenngleich keines der Tiere wusste, wie man ihn in der Menschensprache eigentlich nannte.
Den Mädchen kam die Hatz endlos vor, und je länger die Suche andauerte, desto mehr wuchs ihre Befürchtung, dass ihrem Papa etwas passiert sein mochte. Fast hatten sie die Hoffnung verloren, da endete der Wald abrupt. Hier lichtete sich der Baumwuchs und ging in einen Abhang über, der ziemlich steil und ziemlich tief abfiel.
"Seht, da liegt er!", rief Marlon aus.
Und tatsächlich, dort unten, am Rande eines weiten Feldes voller Schnee, über dem seichter Nebel waberte, lag der Vater.
"Papa, Papa, was ist mit Dir?", riefen die Töchter aufgeregt durcheinander, doch er regte sich nicht.
"Wir müssen da runter und nach ihm schauen!", erkannte Leni.
"Aber wie soll das gehen?", fragte Lili mit Tränen in den Augen. "Das ist viel zu steil!"
Damit hatte sie recht. Ein Abstieg war für die beiden unmöglich, denn dann wären sie ebenfalls abgestürzt und hätten sich mit großer Wahrscheinlichkeit schwer verletzt. Man einigte sich darauf, die Eule zunächst hinab zu schicken.
"Er lebt!", berichtete sie, als sie wieder hinauf geflogen kam. "Aber er ist bewusstlos. Und er scheint verletzt zu sein!"
Einerseits war es beruhigend, zu wissen, dass er den Sturz überlebt hatte, andererseits wuchs die Verzweiflung, da die Mädchen weder wussten, wie schwer er sich verletzt hatte, noch wie sie zu ihm gelangen und ihn retten sollten. Zwar trauten sich sowohl Wölfe, als auch der Fuchs den schwierigen Abstieg vor, aber sie würden sicher nicht in der Lage sei, die Mädchen zu tragen. Doch dann kam Lili die rettende Idee!
"Lass uns die Feenseide verwenden!", stieß sie hervor.
Es dauerte einen Moment, dann verstand Leni. Die beiden Schwestern hatten ja von den Feen Stücke von deren magischem Stoff bekommen, der angeblich Wunder bewirken konnte. Und schon hatte Lili ihres aus ihrer Jackentasche genestelt.
"Wie funktioniert das nun?", fragte Leni.
"Mit Fantasie!", sprach die Eule.
Und so geschah es: Lili und Leni berührten beide das glänzende und glitzernde Stück Feenseide, und durch ihre Vorstellungskraft, ihren Glauben daran, dass alles möglich war, und vor allem ihre Liebe zueinander und zum Vater begann die Seide zu wachsen und sich zu einem langen, geschlungenen Seil zu formen. Sie suchten sich einen besonders kräftig wirkenden Baum in der Nähe des Abhangs und banden das Seil daran fest. Dann ließen sie das freie Ende über den Abhang hinab baumeln, und siehe da: Es reichte problemlos bis zum Boden!
Lili stieg als erste hinab, denn im Falle dessen, dass sie es nicht bis nach unten schaffen würde, wollte Leni sie am Seil wieder hinauf ziehen können. Doch die Kleine stellte sich geschickt an, erreichte den Boden, winkte kurz und rannte dann zum Vater, um ihm beizustehen. Dann machte sich Leni an ihren Abstieg, während einige Meter entfernt die Wölfe und der Fuchs vorsichtig, aber zielsicher kleine Vorsprünge und dünne Bäumchen, die am Abhang hervorstanden, nutzten, um mit gezielten Sprüngen ebenfalls den Boden zu erreichen. Ihr Vorgehen war waghalsig und mutig zugleich, und im stillen dankte Leni der Welt dafür, dass sie solch tapfere Freunde gefunden hatten. Die Eule indes begleitete Lenis Abstieg, wie sie es auch bei Lili zuvor getan hatte, um im Notfall irgendwie noch eingreifen zu kennen - wobei niemand eine Idee hatte, was dieser kleine Vogel im Falle eines Absturzes hätte retten können. Doch zum Glück war das auch gar nicht nötig, denn Mithilfe des glitzernden Feenseiden-Seiles und ihres eigenen Mutes erreichte auch Leni alsbald den Boden. So schnell sie konnte, rannte sie hinüber zu ihrem Vater, und versuchte, wie schon ihre Schwester, diesen aufzuwecken. Doch er regte sich nicht.
"Er ist ganz kalt!", stellte sie erschrocken fest und versuchte, ihm mit ihrer Körperwärme ein wenig zu Hilfe zu kommen.
In diesem Moment heulte Lupo Senior laut auf.
"Da kommt etwas!", warnte er, doch da sahen es auch schon die beiden Schwestern.
Der Schwarze Schatten kam vom Felde heran, ließ die dortigen Nebelschwaden durcheinander wirbeln und stürzte schnurstracks auf den Vater und die beiden Mädchen zu!
Todesmutig warfen sich ihm die Wölfe und der Fuchs entgegen, knurrten und bellten und schnappten nach ihm. So schafften sie es tatsächlich, den Schwarzen Schatten auszubremsen, doch es schien nur eine Frage der Zeit, bis er sich an den Tieren vorbei kämpfen würde.
"Ihr müsst Euren Vater aufwecken!", schnaufte Nadja. Die Wölfin setzte zu einer neuen Attacke auf den Schatten an. "Nur er selbst kann den Schwarzen Schatten verbannen!"
Dann stürzte sie sich wieder auf den Feind, aber der fegte sie mit einem Hieb zur Seite und wollte im nächsten Moment Lupo Junior angreifen, als dessen Vater sich dazwischen warf und es gar schaffte, den Schatten für einen Moment zu Boden zu ringen. Doch der Triumph währte nur kurz, auch das größte und stärkste der Tiere hatte kaum eine Chance gegen das Dunkel, das auf sie alle hinein brach.
"Beeilt Euch!", ächzte Marlon, der mitsamt dem Jungwolf die letzte Verteidigungslinie bildete.
Leni und Lili versuchten alles, sie wärmten den Vater, schrien auf ihn ein, baten und bettelten, doch all das half nichts. Schon ragte der Schwarze Schatten über ihnen hinauf, denn all die Vierbeiner hatten zwar ihr Bestes gegeben, lagen aber nun geschlagen am Boden. Da erinnerte sich Leni an den Vorabend, und daran, wie traurig ihr Vater beim gemeinsamen Spiel gewirkt hatte. Sie hatte es nicht erkannt, nicht wirklich verstanden, wie sehr er selbst unter dem Tod der Mutter litt, währenddessen er für seine Töchter stark bleiben musste und deren Launen noch aushielt. Statt den Verlust gemeinsam zu tragen, waren alle drei in ihre eigenen Kokons geschlüpft und hatten sich voneinander entfernt. Wie sehr musste das noch zusätzlich am Vater gezehrt haben?
"Papa, es tut mir so leid...", flüsterte sie und drückte ihn fest an sich.
Eine Träne rann über ihre Wange und tropfte ins Auge des Vaters. Er stöhnte auf, blinzelte, erblickte den Schwarzen Schatten.
"Hinfort mit Dir!", krächzte der Vater und verlor sogleich wieder sein Bewusstsein.
Doch es hatte geholfen! Der Schwarze Schatten war von einem Moment auf den anderen verschwunden, hatte sich aufgelöst - oder doch zumindest für den Moment verzogen!

Leni starrte aus dem Fenster. In Ihrem Arm lag Lili, vor Erschöpfung eingeschlafen. Auf einer Trage festgeschnallt war der Vater, betreut von einem Rettungssanitäter, der ihr versichert hatte, dass es dem Patienten den Umständen entsprechend gut gehe; seine Werte waren stabil, und er würde bald wieder zu sich kommen. Lediglich das gebrochene Bein würde eine Weile brauchen, bis es verheilt war.
Sie hatten den Notruf absetzen können, indem Leni eine Tracking-App auf ihrem Handy aktiviert hatte, welche ihr Vater ihr einst für Notfälle installiert hatte. Zwar war sie damals von dem Programm wenig begeistert gewesen und hatte es nur für einen plumpen Überwachungsversuch gehalten, aber nun hatte sich die weise Voraussicht des Vaters bewährt.
Wobei auch das beinahe gescheitert wäre. Die Berge und Bäume hatten den Empfang auf Lenis Smartphone nach wie vor blockiert. Sie konnte zwar den Notruf aktivieren, aber dieser drang wegen des fehlenden Netzzugriffs zunächst nicht in die Zivilisation vor - bis Lili auf die glorreiche Idee kam, die Eule damit hoch empor steigen zu lassen. Als diese nun das Handy soweit hinauf trug, dass keine störenden Erhebungen mehr im Weg waren, ging das Signal samt der Koordinaten hinaus und alarmierte die Bergwacht.
Als der Helikopter sich schließlich genähert hatte, mussten sie sich von den lädierten, aber zum Glück nicht ernstlich verletzten Tieren verabschieden.
"Wir meiden die allermeisten Menschen aus guten Gründen", hatte Marlon erklärt. "Auch wenn diese hier euch zu Hilfe eilen, so würde eine Begegnung mit uns zu Komplikationen führen."
Der Abschied war traurig gewesen, denn niemand von ihnen wusste, ob sie sich je wiedersehen würden.
Am Horizont ging langsam die Sonne auf. Leni schaute noch einmal auf ihre Schwester, dann auf ihren Vater. Tief in ihrem Herzen spürte sie: Beiden ging es gut. Das war das Wichtigste. Mit einem letzten Blick lauerte sie verstohlen in ihre Jackentasche, gerade so, dass der Sanitäter nichts davon sah.
Das Funkeln, welches sie darin wahrnahm, hatte etwas zutiefst beruhigendes.

Veröffentlicht: 22.03.2021

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