Frank van Düren - Willkommen in meiner Welt
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Lisa hat Fernweh

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„Ich würde so gerne auf Reisen gehen!“ seufzte Lisa und schaute über das weite Feld zum fernen Waldstück an dessen anderem Ende.
Lisa war ein Wildkaninchen, jung und fesch, mit strammen Hinterbeinen und großen, dunklen Kulleraugen. Neben ihr auf dem alten Holzzaun saß ihr Freund Julius, ein schwarzweiß gescheckter Kater mit kurzem, struppigem Fell und einer verblassten Narbe auf der ansonsten tiefschwarzen Nase.
„Warum machst Du es denn nicht einfach?“ wollte er wissen.
„Ach, alleine macht das keinen Spaß. Wenn ich einen lieben Partner an der Seite hätte, ich würde sofort losziehen!“
„Es gibt doch genügend Kaninchenmänner in der Umgebung. Warum fragst Du nicht einfach einen von denen?“
„Das sind doch alles nur Rammler.“ gab Lisa zu bedenken. „Was ich suche, ist ein Mann mit Tiefe und Humor.“
„Wie Du meinst!“ schmunzelte der Kater an ihrer Seite. „Du, ich muss los. Ich habe noch ein Date mit der süßen Perserin, die seit neuestem bei den Schmidts wohnt!“
Er hüpfte vom Zaun und streunte los. Lisa schaute ihm hinterher, bis er im Gebüsch verschwunden war und ließ dann ihren Blick wieder sehnsüchtig in die Ferne schweifen.

Es war ein goldener Spätsommertag. Die Sonne schien auf den Garten der Meiers hinab, in dem Lisa vergnügt von hier noch dort hoppelte. Ein großer, gelber Schmetterling flatterte an ihr vorbei und winkte ihr zu, und eine Weile verfolgte sie ihn, um dann lachend wieder abzudrehen. Kurz zuvor hatte sie noch mit den Jungs aus der Pappelallee herumgetollt, jetzt wartete sie auf Julius. Sie beide hatten sich verabredet, um ein wenig den Bach hinter der Wohnsiedlung erkunden und die dort lebenden Frösche zu besuchen.
Ein dumpfer Aufprall weckte ihre Aufmerksamkeit. Sie kannte das Geräusch. Sie reckte ihre Nase in die Höhe, um Witterung aufzunehmen und blickte sich zugleich neugierig um. Da war er!
Das leuchtende Rot des Apfels ließ ihr das Wasser in der Schnauze zusammenlaufen. Natürlich war dies nicht der erste Apfel, der in diesen Tagen vom großen Baum gefallen war, aber sie war bisher immer zu spät gekommen. Frau Meier war berüchtigt für ihre Akribie, wenn es um das Sammeln ihrer Gartenfrüchte ging. Und dies war der einzige Apfelbaum weit und breit!
Leider hatte sich das Obst einen denkbar ungünstigen Platz zur Landung ausgesucht. Genau auf der Fensterbank an der Terrasse des Hauses.
Lisa überlegte. Da hinauf zu gelangen, sollte nicht das Problem sein. Direkt an der Fensterbank stand ein weißer Kunststoff-Gartentisch, flankiert von zwei passenden Klappstühlen. Als sportliche, junge Kaninchendame war es ihr ein leichtes, dort hinauf zu springen. Es bestand allerdings die Gefahr, dass jemand von den Meiers im Haus sie entdecken könnte. Menschen waren irrational und manchmal sogar gefährlich, weswegen sie sich – wie fast alle ihrer Freunde – instinktiv von ihnen fern hielt.
„Andererseits“ überlegte sie, „wenn ich mir den Apfel schnappe, bin ich längst über alle Berge, bevor die mich erwischen können!“
Sie folgte dem Lockruf des Apfels. Vorsichtig hoppelte sie etwas näher an die Terrasse, reckte ihre Löffel in die Höhe. Kein Geräusch. Noch ein paar Hüpfer, und sie war an einem der Stühle angelangt. Vor Aufregung vergaß sie kurz zu atmen, doch dann sog sie mit zuckendem Näschen die Umgebungsdüfte in sich auf. Nichts verdächtiges, nur der verlockende Geruch des Apfels, der über ihr auf der Fensterbank thronte!
Ein Sprung, und sie saß auf dem Stuhl.
„Hab dich nicht so!“ beruhigte sie sich selbst.
Noch ein Sprung, und sie saß auf dem Tisch. Ängstlich blickte sie sich im Garten um, doch außer ihr und den allgegenwärtigen Insekten schien niemand da zu sein. Schnell huschte ihr Blick zum Fenster, aber Menschen waren glücklicherweise auch nicht zu sehen. Sie atmete tief durch, nahm Anlauf und sprang auf die Fensterbank. Kurz glaubte sie, durch die leichte Schräge des Untergrunds abzurutschen, aber schnell hatte sie sich gefangen. Da war er. Das Objekt ihrer Begierde! Ein roter, saftiger Apfel, und er gehörte nur ihr. Ein Grinsen ließ ihre Schneidezähne aufblitzen, sie beugte sich über die Frucht und... Im Augenwinkel nahm sie eine Bewegung war. Beinahe wäre Lisa vor Schreck von der Fensterbank gesprungen, aber sie riss sich zusammen. Da unten am Boden im Haus war etwas. Ein Käfig!
Die Kaninchendame hatte so etwas schon einmal gesehen. Ein paar Häuser weiter stand ein Käfig direkt am Fenster, in den Menschen ein paar bunte Vögel gepfercht hatten. Sie fand das grausam. Warum sollte man Lebewesen auf so kleinem Raum einsperren?
Neugierig rückte Lisa etwas nähre an die Scheibe und schaute, was sich da unten in diesem Gitterkasten bewegte. Fassungslosigkeit machte sich breit, als sie erkannte, dass dort unten ein Kaninchen gefangen war! Und ein sehr stattliches obendrein.
Der Mann hatte goldiges Haar, ganz anders als ihr eigenes, graues Fell. Er wirkte ein wenig speckig, während er so lustlos an irgendetwas grünem knabberte. Aber diese Schenkel! Obwohl er eingesperrt war, hatte er kräftige Beine. Nicht auszudenken, wie prachtvoll diese wären, könnte er frei hüpfen! Ihr kleines Herzchen schlug unwillkürlich schneller. Er schien sie nicht wahrzunehmen. Fast lethargisch wirkte er, während er so vor sich hin mümmelte. Seine hübschen Löffel lagen auf seinem Rücken und zuckten ab und zu leicht, aber er richtete sie nicht auf.
Vor Aufregung hatte Lisa den Apfel und alles andere um sich herum ganz vergessen. Noch nie hatte sie ein Kaninchen mit solch einer schönen Fellfarbe gesehen. Alle ihre Bekannten und Verwandten waren grau. In verschiedenen Schattierungen zwar, aber grau. Dieses goldbraun des jungen Mannes hielt Lisa in seinem Bann!
„Was gibt's denn da zu glotzen?“
Lisa erschrak so sehr, dass sie einen Purzelbaum schlug, von der Fensterbank fiel und hart auf dem Terrassenboden aufkam. Julius grinste sie amüsiert an.
„Das war ja fast eine katzenhafte Landung! Du hast viel von mir gelernt.“ bemerkte er mit einem süffisanten Lächeln auf den Lippen.
„Ah... Au... Musst Du mich so erschrecken?“
Ihre Muskeln schmerzten etwas, aber ansonsten hatte Lisa den Sturz unbeschadet überstanden.“
„Sei froh, dass ich Dich zuerst entdeckt habe!“ Julius wurde schlagartig ernst. „In den letzten Tagen mehren sich die Gerüchte, dass es ein Wanderfalke auf unser Wohngebiet abgesehen hat.“
„Ja, aber...“
„Du hast meine Frage nicht beantwortet. Wie kommt es, dass Du lieber bei Meiers durch die Scheibe glotzt, statt dich am Apfel zu laben?“
Lisas Blick glitt hoch zur Fensterbank. Dort oben lag noch immer die leuchtend rote Frucht.
„Du hast mir nie gesagt, dass bei Meiers ein Kaninchen wohnt!“ fauchte sie den Kater an.
„Du hast nie gefragt!“ erwiderte dieser patzig. „Außerdem, wohnen wäre übertrieben. Vegetieren trifft es eher.“
„Wie meinst Du das?“
„Er ist vor ein paar Wochen von den Meiers angeschleppt worden, für ihre kleine Tochter. Die hat sich allerdings nie um ihn gekümmert, also hat man ihn samt Käfig ins Bad gesperrt.“
„Das ist so traurig.“ Lisa spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. „Wie heißt er?“
„Leopold ist sein Name.“erklärte Julius mit einem nachdenklichen Ton in der Stimme. „Wir haben uns ein paar Mal unterhalten, aber er redet nicht viel. Seine Gefangenschaft macht in ganz depressiv. Menschen verstehen nicht, wie grausam reine Käfighaltung eigentlich ist. Ich habe versucht, es den Meiers zu begreiflich zu machen, aber wie immer haben sie mich nur verständnislos angeschaut und ‚Miau' verstanden.“
„Die Menschen verstehen uns schon lange nicht mehr, sie haben sich zu sehr von der Natur entfernt.“ stellte Lisa fest. „Warum lebst Du denn eigentlich noch bei den Meiers? Du könntest doch jederzeit abhauen!“
„Ach zu mir sind sie ja nett. Sie füttern mich, streicheln mich, geben mir ein warmes Plätzchen zum Schlafen, und wenn ich raus will, muss steht meine Klappe jederzeit zur Verfügung.“
Dem hatte Lisa nichts entgegen zu setzen. Dennoch kreisten ihre Gedanken um den armen, hinreißenden Artgenossen, der drinnen im Haus in einem Gitterkasten sein Dasein fristete.
Plötzlich kam ihr ein Gedanke und sie drehte sich so schnell zu ihrem Katzenfreund, dass dieser zurückwich.
„Du musst ihn mir vorstellen!“

„Nun zier Dich nicht so!“ maunzte Julius ungeduldig von innen.
Lisa saß wie gelähmt vor der Katzenklappe. Sie war noch nie im Inneren einer Menschenbehausung gewesen und wusste nicht, was sie erwartete. Natürlich hatte sie hier und da mal einen Blick durch ein Fenster erhaschen können, aber ein menschliches Domizil leibhaftig zu betreten, war noch eine ganz andere Sache. Zudem fürchtete sie die Vorstellung, dass man sie fangen und ebenfalls in einen Käfig sperren könnte!
„Komm schon! Keiner weiß, wann die Meiers nach Hause kommen!“ Der Kater wirkte nervös, so nervös wie sie ihn nie zuvor erlebt hatte. Das machte die Situation nicht besser.
„Wenn Du jetzt nicht hier rein kommst, wirst Du Leo vielleicht nie kennenlernen!“ knurrte er scharf durch die Ritzen der Klappe.
Das saß. Lisa hatte vier Tage warten müssen, bis sich diese Gelegenheit ergeben hatte. Nicht nur, dass die Meiers außer Haus sein mussten. Nein, in der Regel verschlossen sie auch die Tür zum Bad, in dem der Käfig üblicherweise stand, sodass ein Herankommen an den Gefangenen nahezu unmöglich war.
Heute jedoch hatte der Sohn der Meiers dringend noch auf Klo gemusst, bevor die gemeinschaftlich Familie zu einem unbekannten Ziel aufgebrochen war. Sofort war Julius zu Lisa geeilt, um ihr von dieser Gelegenheit zu berichten.
Da saß sie nun. Kaninchenmann Leopold wartete bereits auf sie. Laut Julius war er sofort Feuer und Flamme gewesen, als er hörte, dass es da eine Dame gab, die ihn treffen wollte. Ob die ausschweifenden Beschreibungen des Katers bezüglich der unermesslichen Freude seines Mitbewohners der Wahrheit entsprachen, bezweifelte Lisa – dafür kannte die Julius zu gut. Aber zumindest glaubte sie ihm, dass Leopold dem Treffen nicht abgeneigt war.
Sie nahm allen Mut zusammen und sprang.
„Autsch!“ mit einem dumpfen Knall stieß ihr Kopf gegen die Kunststoffklappe und stieß diese auf, während sie mit Ach und Krach durch die Öffnung flog.
„Selbst schuld!“ konstatierte Julius. Lisa glaubte, Schadenfreude in seinen Augen zu erkennen. „Ich habe Dir gesagt, Du sollst dagegen drücken. Niemand sprach davon, volle Karacho gegen die Tür zu springen.“
Lisa rieb sich die Stirn. Hoffentlich gab das keine Beule! Aber immerhin war sie jetzt im Inneren des Hauses! Alles sah so anders aus hier unten, als aus der erhöhten Position am Fenster, aber sie zwang sich, nicht all zu sehr auf die Umgebung zu achten.
„Wohin jetzt?“ fragte sie schließlich.
„Hier lang!“ erwiderte der Kater.

Julius führte sie durch die Küche in einen Flur, von da aus in das Wohnzimmer, das sie bereits kannte und in dem sie Leopold zum ersten Mal erblickt hatte. Enttäuschung machte sich in ihr breit, als sie ihn hier nicht vorfand.
„Frau Meier putzt jeden Mittwoch gründlich das Bad. Deswegen hatte sie den Käfig hier hin gestellt.“ klärte Julius sie auf. „Die meiste Zeit ist er dort eingesperrt.“ Er zeigte auf eine große, angelehnte Tür.

„Ha...Hallo?“ Lisa schon ihr Näschen vorsichtig zwischen Tür und Rahmen und öffnete sie so einen Spalt. „Leopold?“
Sie hörte ein Rascheln. Der Käfig stand weiter hinten im Bad, neben der Toilette.
„Komm rein.“ hörte sie eine warme, aber gebrechliche Stimme sagen. Ermutigt hoppelte sie zögerlich vor. „Komm näher!“
Da sah sie ihn, in seinem goldbraunen Gewand. Aus der Nähe sah er noch viel eindrucksvoller aus! Kastanienbraune Äuglein beobachteten sie. Lisa blieb still sitzen und betrachtete den Kaninchenmann, der hinter seinen Gitterstäben leicht zu zittern schien.
„Verzeih... Ich kann mich kaum erinnern, wann ich das letzte Mal ein anderes Kaninchen gesehen habe.“ gab er ihr zu verstehen.
„Du musst Dich nicht entschuldigen!“ erwiderte sie. „Du kannst ja nichts dafür, dass man Dich hier eingesperrt hat!“
Ein schwaches Lächeln huschte über seine Lippen.
„Warum wolltest Du mich kennenlernen?“ fragte er.
„Du... ich...“ kurz fehlten ihr die Worte, doch dann besann sie sich. „Ich habe Dich gesehen und gleich gespürt, dass Du jemand ganz besonderes bist!“
„Ach, ich bin nichts. Ich lebe hier Tag ein, Tag aus, gefangen in diesem Käfig. Ich bin nichts besonderes.“
„Für mich schon!“ beharrte Lisa.
„Wir müssen gehen!“ klang es aus dem Wohnzimmer. Julius hatte auf der Fensterbank Wache gehalten, um Lisa rechtzeitig zu warnen, wenn die Meiers zurückkehrten. Das war nun offenkundig der Fall, schon hörte auch sie die reifen auf dem Kies in der Auffahrt.
„Ich komme wieder!“ versprach sie dem Gefangenen.

So vergingen Tage und Wochen. Wann immer es eine Gelegenheit gab, brachte Julius Lisa ins Haus zu Leopold. Manchmal, wenn sicher war, dass die Meiers länger fort blieben, unterhielten sie sich angeregt zu dritt, lachten und erzählten sich Geschichten. Leopold liebte ihre Erzählungen von der Großen weiten Welt. Die meiste Zeit freilich genossen Leo und Lisa die Zweisamkeit, zumindest so gut, wie es durch Gitterstäbe ging. Es kam, wie es kommen sollte, sie verliebten sich ineinander.
„Wir müssen Dich hier raus holen.“ betonte Lisa traurig, nicht zum ersten Mal.
„Du weißt, dass das unmöglich ist.“ Leo deutete auf das Vorhängeschloss, mit dem das Türchen seines Käfigs gesichert war. „Die Frau Meier hat es angebracht, seit ich einmal getürmt bin. Seitdem lassen sie mich nur noch raus, wenn sie den Käfig reinigen. Und dann sperren sie mich in die Duschkabine.“ fügte er resigniert hinzu.

Eines Tages schließlich, als sie wieder zu dritt da saßen und sich mit vergorenen Früchten einen leichten Schwips verschafft hatten, sprang Julius auf.
„Ich habe einen Plan!“ rief er.
Lisa und Leo warfen sich durch die Gitterstäbe amüsierte Blicke zu und dachten, der Kater sei gerade übergeschnappt. Doch nachdem dieser ihnen seine Idee ausführlich unterbreitet hatte, stimmten sie dem Unterfangen zu. Hoffnung machte sich in den kleinen Kaninchenherzen breit!

Schließlich war es soweit. Wie geplant trafen sie sich an einem Mittwoch auf der Terrasse. Vater Meier und die Kinder waren außer Haus, lediglich Frau Meier sollte anwesend sein und ihrem inneren Zeitplan nach das Bad reinigen. Dass dem so war bestätigte Julius, der allerdings unerwarteterweise un Begleitung kam. Neben ihm saß eine kleine, untersetzte Ratte, die ein schwarzes Stirnband trug.
„Das ist Chang.“ stellte Julius seinen Begleiter vor. „Er wird uns helfen.“
„Hai!“ sagte die Ratte.
„Hallo Chang. Wofür ist das Stirnband?“ fragte Lisa.
„Ich bin ein Ninja!“ stellte Chang klar.
„Kommen Ninjas nicht aus Japan?“ fragte Lisa skeptisch. „Chang ist doch ein chinesischer Name!“
„Wir leben in einer freien und globalisierten Welt. Alles ist möglich.“ stellte der kleine Stirnbandträger nüchtern fest. Dem hatte Lisa nichts entgegen zu setzen.
„Warum hast Du mir nicht gesagt, dass noch jemand mit von der Partie ist?“ fragte Lisa Julius leicht säuerlich. Ihr Gefiel es nicht, dass der Katzenmann den ausgeklügelten Plan ohne Rücksprache geändert hatte.
„Es hat sich kurzfristig ergeben.“
„Woher kennt Ihr Euch überhaupt?“
„Er wollte mich fressen.“ sagte die Ratte trocken.
„Ihm verdanke ich das hier!“ Julius tippte mit einer Kralle auf die blasse Narbe, die seine Nase zierte. „Es war eine verdammt dumme Idee. Das hat er mir klargemacht, seitdem ernähre ich mich vegetarisch.“
Lisa war verwirrt, hinterfragte das Gehörte aber nicht. Sie kannte Julius schon zu lange und wusste, dass seine Gedankengänge oft unergründlich waren. Immerhin schien er der Ratte zu trauen, also gab auch sie dem durchgeknallten Nager mit dem Stirnband eine Chance.

Es war soweit, alle waren in Position. Lisa hielt die Spannung kaum aus und musste aufpassen, dass sie vor Nervosität nicht mit der Pfote auf den Boden klopfte. Das war eine schreckliche Angewohnheit, die sie irgendwie nie losgeworden war. Um Leopolds Willen riss sie sich aber zusammen.
Dieser saß in seinem Käfig, den Frau Meier zuverlässig ins Wohnzimmer gestellt hatte, damit sie in Ruhe das Bad putzen konnte. Aus selbigen klangen entsprechende Schrubbgeräusche und ihre Stimme. Frau Meier redete die ganze Zeit mit sich selbst und kommentierte jeden ihrer Arbeitsschritte. Das war überaus praktisch, da die Tiere so sicher sein konnten, dass sie gerade akribisch die Toilette reinigte. Lisa machte es aber um so mehr verrückt. Sie hasste die Vorstellung, dass sie sich auf menschlichem Territorium befand, mit einer Menschenfrau nur wenige Sprünge von ihr entfernt.
Sie selbst hatte sich hinter der geöffneten Tür positioniert, die vom Wohnzimmer in den Flur führte. Von hier aus hatte sie die größtmögliche Übersicht über das Geschehen und zugleich einen vergleichsweise kurzen Weg zur Küche und der dortigen Katzenklappe, falls was schief lief und sie fliehen musste.
Leopold saß in seinem Käfig und mümmelte an einer Möhre. Frau Meier gab ihm während der Putzaktionen immer frisches Gemüse. Um ihn vom Stress abzulenken, wie sie stets laut sagte. Wie gesagt, sie kommentierte alles, was sie tat.
Natürlich versuchte Leo, ruhig zu bleiben und sich nichts anmerken zu lassen, wenngleich Frau Meier ihn von ihrer Position im Bad aus gerade nicht sehen konnte. In Wahrheit zitterte er vor Aufregung am ganzen Leib.
„Das ist so süß!“ dachte Lisa bei sich und zwinkerte ihm zu. Er erwiderte das mit einem zaghaften Lächeln um sich dann wieder demonstrativ seiner Mohrrübe zu widmen. Ein kurzer Moment nur, ein Blickkontakt, der aber beide ein wenig beruhigte.
Julius saß auf der Fensterbank. Fast exakt an der Stelle, wo Lisa Leopold auf der Jagd nach dem Apfel zum ersten Mal erblickt hatte. Nur dass Julius auf der Innenseite saß, zwischen den Blumen, die Meiers Wohnzimmerfenster verschönerte. Er schaute hinaus, wie es Katzen eben tun, wenn sie auf Fensterbänken sitzen. Und er strahlte Ruhe aus. Lediglich ein gelegentliches Zucken seines Schwanzes verriet seine Anspannung. Just in diesem Moment drückte er seine Schultern ein wenig durch, wodurch er noch ein wenig mehr wie eine erhabene Statue wirkte.
Von der Ninja-Ratte Chang war nichts zu sehen. Lisa wusste, dass er nur einen Katzensprung vom Käfig entfernt unter dem Sideboard saß, verborgen in den Schatten. Er war es auch,der das Zeichen gab und eine große Murmel mit einem lauten Klacken auf den Wohnzimmerboden warf.
In Sekundenbruchteilen drehte sich Julius und sprang los, um mit lautem Krachen und Gefauche Auf Leopolds Käfig zu landen.Beide schrien wie verrückt, Leo hüpfte wie in Panik im Kreis. Vom plötzlichen Lärm aufgeschreckt riss Frau Meier die Badezimmertür auf und stolperte mit aufgerissenen Augen und einem Putzlappen in der Hand ins Wohnzimmer.
„Was zum... Was zur Hölle machst Du da?!“ schrie sie den marodierenden Kater an. Julius nahm das zum Anlass, nochmal hochzuhüpfen, laut zu fauchen und dann wieder auf den Scheppernden Käfigstäben zu landen. Zugleich hüpfte und quiekte der Kaninchenmann unter ihm herum, als wäre er kurz vorm Herzinfarkt. Und tatsächlich, noch während Frau Meier zum Käfig lief, mit dem nassen Lappen unbeholfen nach Julius warf und wutentbrannt „Du bringst ihn ja um!“ rief, passierte es – Leopold bäumte sich an, hyperventilierte, verdrehte die Augen und brach zusammen.
Julius indes nutzte den Moment und rannte aus dem Zimmer, um sich im Flur zu verstecken.
„Oh nein!“ rief Frau Meier. „Die armen Kinder!“
Sie nahm das Vorhängeschloss vom Käfig und öffnete ihn, um das vermeintlich tote Kaninchen heraus zu holen. Es kostete Leopold einige Mühe, in diesem Moment die Luft anzuhalten und sich nicht zu bewegen, oder ihr gar aus Reflex in den Finger zu beißen, wie er es zu früheren Gelegenheiten schon getan hatte. Nachdem sie sich fachmännisch vom Ableben des Karnickels überzeugt hatte, legte sie Leo auf den Boden und wischte sich mit dem Ärmel ihres Putzkittels den Schweiß von der Stirn.
„So ein Mist, jetzt müssen wir ein neues kaufen.“ ließ sie ihren Emotionen freien Lauf. „Das hier kommt erstmal in den Eimer, dann kann Harald es nachher im Garten verscharren.“
Auf einmal schrie sie laut auf. Wie aus dem Nichts war eine fette Ratte neben dem toten Kaninchen aufgetaucht und starrte sie an! Doch statt vor Angst wegzulaufen, wie es vorgesehen war, hob sie den rechten Fuß und versuchte Chang unter ihrem Stiefel zu zerquetschen. „Alle Menschenfrauen haben Angst vor Ratten und Mäusen!“ hatte Julius behauptet. Von wegen.
Ninjaratte Chang nutzte seine geschmeidigen Reflexe und rollte sich gerade noch rechtzeitig zur Seite ab. Geistesgegenwärtig nahm er die Beine in die Hand verfolgt von der hysterisch keifenden Frau Meier. Sein Fluchtweg führte ihn geradewegs in das anliegende Bad.
„Oh nein!“ rief Lisa entsetzt. „Jetzt sitzt er in der Falle!“
„Wir müssen ihm helfen!“ stieß Leo hervor, der sich aus seiner gut geschauspielerten Todesstarre aufgerappelt hatte.
„Er machte das schon.“ versuchte Julius, der inzwischen wieder ins Wohnzimmer gestiefelt war, die beiden Kaninchen zu beruhigen. „Schaut hin!“
Tatsächlich sah Chang bei genauerem hinschauen alles andere als verzweifelt aus. Leichtfüßig tänzelte er hin und her, sprang von links nach rechts und wich den Attacken der geifernden Frau mühelos aus. Diese hatte sich den im Bad angelehnten Wischmop geschnappet und hieb damit nach dem kleinen Nager. Ninjaratte Chang schien sich einen Spaß aus dem Tobsuchtsanfall von Frau Meier zu machen. Er hüpfte, lief und grinste dabei wie ein Irrer, schlug zwischendurch sogar Salti und Radschläge.
Dann nahm er Anlauf und sprang in hohem Bogen auf die Toilette. Zwar hatte er gesehen, dass der Deckel hochgeklappt war, landete aber zielsicher auf dem Toilettenrand... Um dann gleich abzurutschen! Die Keramikschüssel war noch glitschig von den Unmengen an Reinigungsmitteln, welche die putzwütige Meier kurz zuvor noch eingesetzt hatte! Chang hatte keine Chance und stürzte in den Schlund der Toilette.
„Chang!!!“ klang es verzweifelt aus drei kleinen Tierkehlen.
„Hab ich Dich!“ brüllte siegesgewiss die schnaufende Hausherrin und betätigte die Spülung. Ein tosendes Rauschen erklang, welches die kleine Ratte hinab riss. Tränen kullerten aus den Augen der drei kleinen Tierchen, aber es war Julius, der die Geistesgegenwart besaß und die beiden Knainchen mit sich zog. Gemeinsam flohen sie aus dem schrecklichen Haus, in dem Chang soeben sein grausames Ende gefunden hatte und Leopold so lange in Gefangenschaft hatte leben müssen.

„Er hat sich für mich geopfert.“ stellte Leo mit gebrochener Stimme fest, seine Vorderpfote um die noch immer weinende Lisa gelegt. In ihrer Panik waren die drei Gefährten runter zum Bach gerannt, wo sie nun gemeinsam die Geschehnisse sacken ließen.
„Chang war ein guter Freund und ein wahrer Krieger! Ich werde ihn nie vergessen,“ versprach Julius und rieb sich gedankenverloren mit der Pfote über die Narbe auf der Nase. „Was habt ihr nun vor?“
Lisa schluckte und wischte sich die Tränen aus den Augen. An deren Stelle traten gleich neue.
„Reisen!“ seufzte sie schließlich. „So weit wie möglich weg von diesem schrecklichen Ort.“
„Was ist mit Dir?“ fragte Leopold den Kater.
„Wenn es für Euch okay ist, würde ich Euch gerne eine Weile begleiten, zu einer anderen Wohnsiedlung. Vielleicht finde ich dort gute Menschen, die mir ein Zuhause geben. Bei den Meiers hält mich nichts mehr.“ stellte er wehmütig fest.
„Natürlich darfst Du mit uns kommen! Du bist doch mein bester Freund!“ Ein Hauch von Hoffnung legte sich über Lisas traurige Stimme. „Wir müssen noch Vorräte sammeln, und dann geht es... Moment, was stinkt hier so?“
Der derbe Geruch ließ auch die beiden Männer die Nasen rümpfen. Fragend blickten sie sich gegenseitig an, dann nahm Lisa aus dem Augenwinkel eine Bewegung hinter sich war. Erschrocken fuhr sie herum, ihre Begleiter taten es ihr gleich.
„Chang?!“ stieß Lisa hervor.
„Hai!“
„Du lebst?!“ fragte Leo ungläubig.
„Hai!“
„Wie konntest Du das überleben?“ fragte Julius den Rattenmann, der aussah und stank, als wäre er direkt der Kanalisation entstiegen. Was offenkundig der Fall war.
„Ich bin ein Ninja!“ sprach Chang und verbeugte sich.

Veröffentlicht: 28.09.2018

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